Ist die Pandemie ein Beschleuniger oder eine Bremse für einen nachhaltigeren Umgang der Menschheit mit unserem Planeten? Nachdem wir im ersten Teil dieser Blogserie mögliche wirtschaftliche Szenarien beleuchtet haben, geht es in dieser Folge um die Frage, was von Corona an ökologischen und gesellschaftlichen Veränderungen bleiben wird.
2020 wird ein vergleichsweise «grünes Jahr»
Nach Schätzungen der internationalen Energiebehörde IEA dürften über alles gesehen ca. 13 % weniger Erdöl verbraucht werden als 2019 und die Treibhausgasemissionen global um 8 % zurückgehen. Jährlich verbraucht die Menschheit ca. 6 Kubikkilometer Öl, das ist das 1.5‑fache von dem, was der Zürichsee an Wasser gespeichert hat. Dieses Jahr sind es also ca. 1 Kubikkilometer (Würfel mit Kantenlänge 1 km) weniger. 1’000 Milliarden Liter Rohöl also, die nicht verbrannt oder in Kunststoff umgewandelt werden. Das ist zwar viel, aber wenn das Pariser Klimaziel einer Begrenzung der Erderwärmung um 1.5 % erreicht werden soll, müsste die Menschheit jedes Jahr wiederkehrend Emissionsreduktionen in dieser Grössenordnung (7.6 %) schaffen. Es ist klar, dass dies nicht mit Lockdowns zu machen ist. Alle Flugzeuge dieser Welt, von denen die meisten nun zeitweise am Boden geblieben sind, verursachen nur gerade 2–3 % des gesamten CO2-Ausstosses.
Weniger Konsum und weniger Abfall
2020 werden wohl auch deutlich weniger Konsumgüter produziert und konsumiert, auch wenn in den Lockdown-Monaten die Heimlieferungen enorm zugenommen haben. Vor allem die Textilindustrie dürfte einen stärkeren Nachfragerückgang erleiden. Die Wertschöpfungskette dieser Branche ist bekannt für sozial- und umwelttechnisch kritische Verhältnisse. Dazu gehören der hohe Wasserverbrauch der Baumwollproduktion in meist trockenen Gebieten wie Zentralasien, die Textilverarbeitung unter teilweise prekären Arbeitsverhältnissen, die starke Abwasserverschmutzung und die Wegwerf-Mentalität auf der Verbraucherseite in vielen Industriestaaten.
Das «Corona-Jahr» wird auch punkto Abfallproduktion als grünes Jahr in die Geschichte eingehen. Die Bekleidungsindustrie ist auch hier exemplarisch: Schweizerinnen und Schweizer haben im Schnitt 118 Kleidungsstücke im Schrank und kaufen jedes Jahr 60 neue Stücke dazu. 40 % ihrer Kleider tragen sie nie oder nur 2–4 Mal. Die Textilbranche hat im Jahr 2018 über 92 Millionen Tonnen Textilabfälle produziert – vor allem durch überschüssiges Material beim Herstellungsprozess und durch unverkaufte Waren. 2020 werden es deutlich weniger sein. Derzeit verursacht die Textilindustrie jährlich 1.2 Milliarden Tonnen CO2 – und damit mehr als alle internationalen Flüge und Kreuzfahrten zusammen.
Was bleibt sicher nach Corona?
Die Pandemie wurde – quasi unbeabsichtigt – zum Katalysator einiger bereits seit längerem bestehenden ressourcenschonender Trends. Da ist zum einen die Digitalisierung der Arbeit: Vielerorts sind Homeoffice-Infrastrukturinvestitionen getätigt worden. Mitarbeitende zahlreicher Firmen haben sich an diese Form der Arbeit gewöhnt und neben den zweifellos existierenden Herausforderungen (Stichwort Trennung von Frei- und Arbeitszeit) auch die Vorteile wie wegfallender Arbeitsweg und effizientere Zeitnutzung schätzen gelernt. Wegfallender Arbeitsweg, effizientere Zeitnutzung: Umweltbilanztechnisch bedeutet dies weniger Pendelverkehr und weniger Bürofläche. Der entfallende Arbeitsverkehr bringt zweifellos langfristig eine Entlastung der Transportinfrastruktur. Ein weiterer Trend ist die Digitalisierung des Konsums: Viele Kunden haben notgedrungen gelernt, die Vorzüge des Home-Delivery zu schätzen. Dadurch erspart man sich die Auto- oder Tramfahrt in den Supermarkt, die Parkgebühren und eine Menge Zeit. Und dann ist da noch der Trend zu einer teilweisen Ent-Globalisierung, der nicht erst seit Corona zu beobachten ist: Mehr lokale Produktion, weniger Transport, höherer lokaler Footprint. Hier sind die ökologischen Folgen allerdings umstritten. Es ist zum Beispiel bekannt, dass die biologische Landwirtschaft zwar deutlich weniger negative Auswirkungen auf Fauna, Flora, Böden und Grundwasser hat, dass die Ressourcen-Effizienz hingegen oft schlechter ist als bei nichtbiologischen Betrieben.
Durch den forcierten Ausfall von Mitarbeitenden durch den Lockdown hat der Druck, Prozesse wo möglich zu automatisieren, zugenommen. Auch viele damit zusammenhängende operationelle Risiken wurden durch Corona schonungslos aufgedeckt. Hier wird zweifelsohne mehr investiert, mehr abgesichert und versichert werden. Zu Beginn der Corona-Krise wurde verschiedentlich angemahnt, Lieferketten weg von China zu diversifizieren. Schon bald war es aber eine Pandemie, und selbst optimal diversifizierte Beschaffungsprozesse nützten wenig, zumal auch noch die Nachfrage nach vielen Gütern wegbrach. Wie stark eine Regionalisierung der Produktion umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Wird vermehrt auf parallele Industrieproduktion gesetzt, läuft dies der Effizienz – auch im ökologischen Sinne – möglicherweise entgegen.
Was könnte darüber hinaus auch ändern?
Viele Zukunftspropheten hat man in diesen Corona-Wochen gehört. Einige lesen sich nüchterner, andere sehen durch das Virus gar eine epochale Zeitenwende auf die Menschheit zukommen. Einschneidende Ereignisse zeitigen stets Anpassungen von Verhaltensmustern. Ein kompletter und radikaler Umbruch findet dabei hingegen nur selten statt. Die folgenden zwei Gesetzmässigkeiten werden wohl auch in der aktuellen Lage ihre Gültigkeit behalten:
1. Die Geschwindigkeit des Wandels wird oft über‑, dessen Ausmass hingegen unterschätzt.
2. Die Menschheit vergisst sehr schnell. Wie Mahatma Gandhi sagte: «Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt».
Weder das papierlose Büro noch das Ende des analogen Zeitalters ist eingekehrt wie noch in den 1990er Jahren propagiert. Auch Atomkraftwerke wurden nach Tschernobyl munter weitergebaut.
Szenario 1: Corona katalysiert den Trend zu mehr Nachhaltigkeit längerfristig
• Weniger Konsum
Weniger Flugreisen, weniger Kreuzfahrten, weniger Trend-Artikel: Damit auch weniger Marketing, weniger Produktion und mehr Kreislaufwirtschaft. Dafür wohl mehr Konsum von digitalen Inhalten (TV, Internet, Social Media, Videospiele etc.). Dies bedeutet in der Konsequenz auch: Strukturell deflationäre Tendenzen und höhere strukturelle Arbeitslosigkeit. Neue sozialpolitische Strukturen müssen gefunden werden.
• Mehr Introspektion
Menschen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind, besinnen sich auf das Wesentliche im Leben: Mehr Gewicht auf zwischenmenschliche Beziehungen, achten auf die Natur und die Gesundheit und leben von Spiritualität. Daraus können neue Geschäftsideen entwickelt werden. Allerdings würden solche Tendenzen längerfristig wohl nur im obersten Teil der Maslowschen Bedürfnispyramide nachhaltig wirken.
• Der Green New Deal
Ursprünglich für die USA unter Barak Obama kolportiert, wurde als «Green Deal» letztes Jahr auch von der Europäischen Kommission aufgenommen. Hier soll er bis zu EUR 1’000 Mrd. umfassen. In der Corona-Krise kam nun der Green Recovery Plan dazu, damit soll der Anteil an Klimaschutz-Massnahmen im derzeit EUR 1350 Mrd. schweren Konjunkturpaket zumindest nicht geschmälert werden. Europapolitiker von Links bis in die Mitte werden auch in einzelnen Ländern für Druck sorgen, dass klimakonforme Bedingungen in Konjunkturprogrammen Eingang finden. Das bedeutet mehr Investitionen in erneuerbare Energie, in die Elektromobilitäts-Infrastruktur und in energie- und ressourceneffiziente Infrastruktur. Wenn die Staaten hier ein Machtwort sprechen, dann wird dies zweifellos ein nachhaltiger Trend werden. Und dies weitgehend unabhängig vom wirtschaftlichen Szenario.
Szenario 2: Die wirtschaftliche Schwäche und das Social Distancing drängen den Klimawandel und alle Bemühungen, die Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten, in den Hintergrund
• Billige fossile Energie
Diese Tatsache macht das Reisen und Heizen mit Öl sehr günstig.
• Weniger teilende Wirtschaft
Die Sharing Economy ist in vieler Hinsicht ein Gegenspieler des Social Distancing. Klassische Sharing Economy-Firmen wie AirBnB, Uber, Lyft und WeWork verzeichnen in der Corona-Krise einen eigentlichen Bruch ihres Geschäftsmodells. Allein AirBnB entlässt einen Viertel seiner Belegschaft. Die Vorstellung, Fahrzeuge, Immobilien, Werkzeuge und vieles mehr zu teilen anstatt zu besitzen, um mit dem gesparten Geld Erlebnisse zu finanzieren, funktioniert schlecht, wenn gesundheitliche Bedenken überwiegen. Sollte letztere Haltung auch in einer Corona-resistenten Gesellschaft zu einer gewissen Grundhaltung werden, so haben Fahrgemeinschaften, AirBnB, Teilen und Tauschen von Gebrauchsgütern, aber auch das Time-Sharing wie zum Beispiel Nachhilfestunden oder Rent-a-Rentner Angebote einen schweren Stand. Gewisse Analysten gehen davon aus, dass diese sogenannte Gig-Economy etwa ein Drittel aller Erlöse in den kommenden Monaten verliert, einen Teil davon möglicherweise nachhaltig. Das Individuelle feiert wieder Urstände, die öffentlichen Verkehrsmittel bleiben deutlich leerer als vor der Krise.
• Eine schleppende wirtschaftliche Erholung
Das im ersten Teil unseres Blogs beschriebene L‑Szenario bringt Auftrieb für nationalistische Kräfte, Anti-Globalisierung ist tendenziell ein Gegenspieler für die Lösung der globalen Umweltprobleme. Der gesellschaftliche Druck der hohen Arbeitslosigkeit lässt die klima- und umweltpolitischen Ziele ganz weit hinten in der politischen Agenda verschwinden.
Szenario 3: Wenn Corona keine Gefahr mehr darstellt, ist alles wieder wie einst. 2022 wird die Welt kaum eine andere sein als 2019
• Klimawandel, Migration und der Ost-West-Konflikt
Die alten Themen werden wieder in den Vordergrund rücken. Damit erhöht sich der Druck auf die Politik wieder, Massnahmen zur CO2-Reduktion zu treffen. Die Fridays for Future melden sich zurück. Doch die Suche nach individuellem Glück, nach Selbstdarstellung in den sozialen Medien und die Renaissance konservativer Werte wie Familie, Kinder, Haus und Hund bei den westlichen Millennials treibt die Kluft zwischen Real und Ideal unter den Entscheidungsträgern der künftigen Jahre weiter auseinander.
• Konsum
Nach den Anschlägen auf Touristen in Luxor im November 1997 brach der Ägypten-Tourismus vorübergehend ein. Doch bereits 2 Jahre später registrierte das Land wieder so viele Besucher wie zuvor. Ein ähnliches Phänomen beobachten wir schon im Juni 2020: Die ersten Ferienflieger sind wieder bis auf den letzten Platz besetzt. Die Schweiz wird den Schweizern zu eng nach 3 Monaten Lockdown. Wenn erst einmal ein Vakzin gegen das Coronavirus vorhanden ist, die günstigen Flugtickets und die schönen Destinationen locken, kehrt bei der internationalen Reisetätigkeit wieder Normalbetrieb ein. Auch den Wunsch nach Wohlstandsgütern haben viele Menschen trotz Corona nicht aufgegeben.
• Geringe geografische Diversifizierung der Produktion
Die Pandemie hat gezeigt: Es ist keine Grossregion vom Virus verschont geblieben. Entgegen ökonomischen Realitäten (Ort der günstigsten Produktion) lohnt es sich für viele Unternehmen nicht, ihre Zulieferketten global zu überdiversifizieren. Doch der Stellenwert, welcher die ökologischen und sozialen Aspekte der Produktion einnehmen, wird weiterwachsen. Der Druck der Verbraucher, Investoren und Regulierer lässt keinen Wirtschaftszweig aus.
Fazit
Szenarien bleiben inhärent schemenhaft. Die Realität wird irgendwo dazwischen liegen. Sowohl in unserem ersten wie auch in unserem letzten Szenario gewinnt aber das Thema Nachhaltigkeit im ökologischen und sozialen Bereich deutlich an Bedeutung. Private Unternehmer und Entscheidungsträger von Publikumsfirmen sind gut beraten, hier über ihre Bemühungen hinaus auch in der Kommunikation mit der Kundschaft, den Aktionären und der Öffentlichkeit Akzente zu setzen. «Tue Gutes und rede darüber» gilt auch in der Welt des 21. Jahrhunderts, Corona hin oder her.
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