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Boom auf zwei Rädern

Von: Dominik Müller

Einst das Fortbe­we­gungs­mittel der Massen

«There are nine million bicycles in Beijing», wusste die britische Sängerin Katie Melua bereits 2005 und rief der Welt in dieser wunder­schönen Ballade in Erinnerung, dass man in den chine­si­schen Millio­nen­städten nach wie vor auf das Zweirad setzt — selbst wenn die effektive Zahl leicht tiefer war. In der Mao-Ära galten Fahrräder als eines der «drei grossen Status­symbole», neben Nähma­schine und Armbanduhr. Die Menschen trugen sich jahrelang in Warte­listen ein, um eine «fliegende Taube» – die Designikone der damaligen Zeit — zu ergattern. Oft wurden dafür Kredite beim Arbeit­geber aufge­nommen. Mit dem raschen Wirtschafts­wachstum kamen die alten Drahtesel im neuen Jahrtausend zwar aus der Mode. Doch infolge der Luftver­schmutzung und infarkt­ar­tigen Verkehrs­staus in Chinas Gross­städten erlebt das Zweirad ein Comeback.

Das Zweirad ist wieder in Mode gekommen

Die Autos haben sich zwar auch in China ihren Platz im öffent­lichen Raum erkämpft. Doch mit einer jungen Generation, die sich der Umwelt­schäden bewusst ist und sich um ihre Gesundheit sorgt, ist die Fahrrad­in­dustrie längst wieder ein vielver­spre­chender Markt geworden. Jedes dritte weltweit gefer­tigte Fahrrad kommt aus China, nur jedes sechste aus den USA, Deutsch­lands Markt­anteil liegt bei gut 5 %. Heute sind die chine­si­schen Städte voller Elektro-Zweiräder. Die Firma Meituan, die sich auf das Geschäft mit Gemein­schafts­fahr­rädern spezia­li­siert hat, schätzt, dass heute knapp 20 % der Chinesen das Fahrrad für den täglichen Arbeitsweg benützen. Das Velofahren als Freizeit­be­schäf­tigung hingegen kommt erst so richtig in Gang im Reich der Mitte. Entspre­chend erleben Mountain­bikes das stärkste Nachfragewachstum.

Booster durch die Pandemie 

Bei uns in Europa wuchs der Markt für Velos und Zubehör bereits vor der Corona­krise mit jährlich knapp 10 %. Mit der Pandemie hat sich die Fahrrad-Lust breiterer Bevöl­ke­rungs­schichten sowohl für den Arbeitsweg als auch in der Freizeit aber nochmal deutlich verstärkt. Viele haben sich während des fakti­schen Reise­verbots mit dem gesparten Feriengeld ein hübsches E‑Bike geleistet. Manch einer schwingt sich am Montag­morgen lieber auf’s Velo, als dicht an dicht in der Strassen- oder S‑Bahn zu stehen. Kommt hinzu, dass auf kurze städtische Distanzen das Zweirad ungeschlagen das schnellste Verkehrs­mittel ist. In Berlin zum Beispiel, schafft man gemäss Verkehrsclub Deutschland eine typische inner­städ­tische Distanz von 4 Km per Fahrrad in 14 Minuten, im Auto baucht man dazu 23 Minuten (Parkplatz­suche nicht eigerechnet), im öffent­lichen Verkehr sind es 26 Minuten und zu Fuss eine Dreivier­tel­stunde. Im etwas engeren und beschau­li­cheren Zürich dürfte die Zeiter­sparnis für Velofahrer noch deutlicher ausfallen. Selbst­ver­ständlich spielt neben dem Faktor Zeit aber auch das Wetter mit, ob Herr und Frau Zürcher in die Pedalen treten oder das Tram bevor­zugen. Fakt ist auch, dass Zürich noch weit davon entfernt ist, eine Velostadt nach hollän­di­schem Vorbild zu sein. Das städtische Tiefbauamt jeden­falls lässt verlauten, dass nur 12 % der zurück­ge­legten Wegstrecken innerhalb der Stadt­grenzen mit dem Zweirad erfolgen. Das öffent­liche Verkehrs­an­gebot ist offenbar schlicht zu gut – es zeichnet für ein Drittel der inner­städ­ti­schen Reisen verant­wortlich. Ein weiteres Drittel wird zu Fuss zurückgelegt.

Flache Welt dank Elektromotor

Dank der Elektri­fi­zierung wird die Fahrrad-Welt sozusagen ausge­ebnet: Berge werden zu Hügeln, Hügel zu Flächen. Zürich samt Höngger- und Käferberg damit quasi zu Amsterdam. Das hat in den letzten Jahren die Freude an den zwei Rädern auch bei weniger sport­be­geis­terten Kundinnen und Kunden geweckt. Der Boom insbe­sondere bei den E‑Bikes hierzu­lande und in Übersee ist atembe­raubend. Stiegen die Fahrrad­ver­käufe in den USA in der Pandemie 2019 und 2020 um 65 %, so schnellte der Verkauf von Elektro­fahr­rädern im gleichen Zeitraum um stolze 145 % nach oben. Hier schlummert nach wie vor ein grosser Absatz­markt: In Amerika kommen auf 100 Einwohner erst 31 Fahrräder, beim Velo-Spitzen­reiter Nieder­lande sind es 92. Die Schweiz liegt mit 49 Fahrrädern pro 100 Einwohner im unteren Mittelfeld. Das kalifor­nische Markt­for­schungs­in­stitut Grandview Research schätzt den globalen Fahrrad­markt auf ca. USD 60 Mrd. und sieht diesen sich bis 2030 verdoppeln, was eine jährliche Wachs­tumsrate von gut 8 % bedeutet. Eine Studie des World Economic Forum rechnet damit, dass in Europa bis 2030 jedes Jahr doppelt so viele Fahrräder wie Autos gekauft werden.

Mehr als nur eine Modeerscheinung

Damit ist auch klar, dass bezüglich Fahrrad-Infra­struktur noch einiges Potenzial vorhanden ist. Die Fantasien für Indus­trie­ver­treter scheinen berechtigt, wenngleich sich die Nachfra­ge­si­tuation postpan­de­misch nun allmählich norma­li­sieren wird. Die Goldgrä­ber­stimmung der letzten Jahre hat bereits viele erfolg­reiche und einige weniger erfolg­reiche Geschäfts­ideen hervor­ge­rufen. Nicht überall zog die Nachfrage mit dem ungestümen Angebots­wachstum gleich. Kaum rühmlich für gewisse Gewer­be­ver­treter waren die Bilder von auf Plätzen und Gehsteigen herum­lie­genden, teilweise halb schrott­reifen Elektro-Scootern. Einst­weilen musste auch der Regulator einschreiten. Den ersten Boom-and-Bust-Zyklus hat die Branche also bereits hinter sich. Dennoch: Scooter, E‑Mopeds, City- und Mountain­bikes, Elektro­fahr­räder und Cargobikes, sie alle sind Teil einer leicht­füs­sigen Mobilität, die mehr als eine blosse Modeer­scheinung ist.

Inves­toren im Renn-Modus …

Dies ist auch der Inves­to­renwelt nicht verborgen geblieben. Das Rennen um die zukunfts­träch­tigen Filet­stücke ist in vollem Gange. Gerade im Januar kündigte eine Inves­to­ren­gruppe um die grosse ameri­ka­nische Private Equity Gesell­schaft KKR an, den bis dahin börsen­ko­tierten hollän­di­schen Fahrrad­her­steller Accell Group (Marken Sparta, Batavus, Raleigh) für EUR 1.6 Mrd. sich einzu­ver­leiben. Die Accell-Aktie hatte bereits in den zwei Pandemie-Jahren 2020–21 um 87 % an Wert zugelegt. Doch offen­sichtlich sehen die neuen Besitzer weiteres Potenzial, denn sie waren bereit, für den Deal nochmal 26 % mehr auf den Tisch zu legen.

Das ebenfalls nieder­län­dische Fahrrad­un­ter­nehmen Van Moof erhielt USD 128 Mio. vom grössten asiati­schen Private-Equity-Haus Hillhouse Capital, um seine Expansion in den USA zu finan­zieren. Weniger Erfolg hatte die New Yorker Fonds­ge­sell­schaft Cerberus Capital Management bei deren Versuch, das börsen­ko­tierte kanadische Unter­nehmen Dorel Indus­tries (Marken Cannondale, GT Bikes) zu übernehmen. Nach anfäng­licher Zustimmung ruderte der Fahrrad­her­steller Dorel zurück, da namhafte Aktionäre das Angebot als zu mickrig erachteten.

… und Firmen im Kaufrausch

Nicht nur Finanz­in­ves­toren sehen sich in der Branche um, es herrscht auch eine rege Konso­li­die­rungs­dy­namik: Nur wenig später nämlich schlug der — ebenfalls nieder­län­dische — Fahrrad-Gigant Pon Holding (Marken Gazelle, Kalkhoff, Focus, Santa Cruz, Cervélo, Swapfiets, Urban Arrow, BBB Cycling, Lease a Bike) erfolg­reich zu und schnappte sich Dorel für USD 810 Mio. Mit dem Zukauf ist Pon nun zum weltgrössten Fahrrad­her­steller mit einem Jahres­umsatz von 2.5 Mrd. Euro avanciert.  Mehr Velo will auch der an der Schweizer Börse kotierte öster­rei­chische Motorrad- und Sport­wa­gen­her­steller Pierer Mobility (Marken KTM, Husqvarna Motor­cycles, GasGas), der im November letzten Jahres die kalifor­nische Felt Bicycles, ein Hersteller von Renn‑, Triathlon‑, Bahn- und Cyclo­cross­rädern erwarb.

Die Inves­tition ins Under­lying lohnt sich auf alle Fälle

Nicht alle Inves­toren werden indes glücklich mit Zweirad-Aktien. Manch einer musste erfahren, dass gerade junge Firmen teilweise hinter den hochtra­benden Erwar­tungen zurück­bleiben. Die Wachstums- und Nachhal­tig­keits-Prämien, die für solche Aktien bezahlt worden sind, lösen sich dann rasch in Luft auf. Beispiele hierfür sind Bike24, eine deutsche E‑Com­merce-Plattform für Fahrräder, oder der ameri­ka­nische Fitnessvelo-Konzern Peloton. Auch die Aktionäre vom öster­reich-nieder­län­di­schen Bike-Konfek­tio­nierer Signa Sports United müssen sich mit einem Kurszerfall von 20 % in Geduld üben. Auf alle Fälle Freude bereiten wird hingegen die Inves­tition direkt ins «Under­lying» — so man das Velo denn auch benützt. Albert Einstein zumindest hatte gemäss eigenen Aussagen eine Schlüssel-Erleuchtung zu seiner Relati­vi­täts­theorie während des Fahrrad­fahrens. Auch der einstige Unter­nehmer und Velo-Fan Andy Rihs meinte: «Ich habe im Sattel mehr Probleme gelöst als in einem Konfe­renzraum.» Es muss nicht unbedingt derart epochal zu und her gehen. Mark Twain formu­lierte es daher einfach: «Besorg Dir ein Fahrrad. Wenn Du lebst, wirst Du es nicht bereuen.»

 

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